Was ist Yoga?
Das habe ich nicht nur in meinem Leben, sondern auch im Bezug auf meine Yogapraxis erkannt. Die hat sich seit meinen ersten wackeligen Anfängen sehr stark gewandelt. Mal praktiziere ich ganz klassisch, mal „modern“ und manchmal frage ich mich dabei sogar selber: Ist das noch Yoga?
Eindeutig Zeit, ebendiese Frage mal genauer unter die Lupe zu nehmen! Was ist denn Yoga überhaupt?
Mythos Yoga – was viele glauben, aber nicht stimmt
Immer wieder schallt es durch die Yogaflure: Yoga ist eine uuuraaalteee Tradition! Stimmt das? Jein! Yoga, wie wir es heutzutage „im Westen“ kennen, hat eigentlich kaum etwas mit der indischen Lehre zu tun, die sich Yoga nennt. Im Gegenteil! Vom herabschauenden Hund oder Sonnengruß ist in den alten, yogischen Schriften überhaupt nicht die Rede!
Wenn wir also von Yoga sprechen, ist es erstmal wichtig, zu untersuchen, was mit Yoga überhaupt gemeint ist.
Vom Ursprung des Yoga
Ich würde Yoga dreiteilen, weil für mich die Ursprünge und Absichten des jeweiligen Systems auf unterschiedlichen Prämissen beruhen.
Das erste System besteht aus Anweisungen darüber, wie der Geist-Körper-Seelen-Komplex diszipliniert und beherrscht werden kann, um die Erleuchtung (=immerwährende Gelassenheit & Zufriedenheit) zu erlangen. Die wohl wichtigste Schrift hierzu ist das Yoga Sutras. Das Yoga Sutras fasst die Aussagen aus den Veden zusammen, die sich mit der Beherrschung des Geistes beschäftigt. Hier wird jedoch keine Körperposition näher definiert, sondern vor allem Meditation und Atemübungen, um den Geist, Körper und Emotionen zur Ruhe zu bringen.
Die Yoga Sutras gehen dabei auch auf den Begriff `Asana`ein. Gemeint ist damit ein bequemer und gleichzeitig stabiler Sitz. (sthira sukham asanam). Das war es dann aber auch, was das Thema `Asana` anbelangt.
Die indischen Schriften, vor allem die Bhagavad Gita, beschreiben 4 Yogawege:
*Raja Yoga, dass sich vor allem um Meditation dreht (die Yoga Sutras beschreiben bspw. Weg, Ziel und Folgen der Meditationspraxis).
*Jnana Yoga, bei dem das Studium der Schriften im Mittelpunkt steht
*Karma Yoga, bei dem selbstloses Handeln zentral ist
*Bhakti Yoga, das die Liebe in den Mittelpunkt stellt (wichtiger Aspekt ist hier beispielsweise das Singen und die rituelle Verehrung von Gottheiten)
In keinem der oben beschriebenen Wege werden Asanas, wie wir sie heute kennen, konkret beschrieben.
Tantrische Schriften und das Hatha Yoga
Das zweite System (in meiner Einteilung), Hatha Yoga, entstand u.a. aus den tantrischen Traditionen.
Basis dieser Texte ist der Glaube an eine Göttlichkeit, die aus den Aspekten Shiva und Shakti besteht. Während Shiva, dass männliche Prinzip, als absolutes, unveränderliches Bewusstsein angesehen werden kann, ist Shakti die tanzende Schöpfungskraft, welche das Universum manifestiert/e.
U.a. aus der Verehrung dieser beiden Aspekte entstanden im Laufe der Jahre Rituale, die sich auch auf den körperlichen Bereich ausdehnten. So wurden beispielsweise Atem- und Bandhaübungen praktiziert oder Sexualpraktiken (!nicht vergleichbar mit dem heutigen Neo-Tantra!) durchgeführt. Diese körperbezogene Praxis entwickelte sich im Mittelalter immer weiter und findet unter anderem in der Hatha Yoga Pradipika ihren Niederschlag. Die Hatha Yoga Pradipika aus dem 14. Jahrhundert nach Chr. beschreibt immerhin ca. 15 Asanas genauer, wobei es sich hierbei fast ausschließlich um sitzende und liegende Positionen handelt. Ziel ist die Aktivierung der schlummernden Kundalini-Energie, aber auch die Kontrolle des Geistes.
Es gibt auch noch andere Schriften, die Yogahaltungen, die Asanas näher beschreiben.
Vom Sonnengruß ist aber auch in diesen Schriften nichts zu lesen.
Woher kommt westliches Yoga also wirklich?
Das dritte und jüngste „System“ kann als Modernes Yoga (Modern Postural Yoga) beschrieben werden, wie wir es heute im Westen kennen. Es ist wahrscheinlich erst Ende des 19ten/ Anfang des 20ten Jahrhunderts entstanden als, grob gesagt, Mischung aus verwässerten indischen Weisheiten und ambitionierter westlicher Gymnastik. Ja, tatsächlich…. Hund, Krieger 1 & 2 sowie den Sonnengruß gibt es seit Ende des 19ten/ Anfang des 20ten Jahrhunderts.
Modernes Yoga, wie wir es heute kennen, hat nur noch ansatzweise mit den indischen Traditionen zu tun, die sehr eng mit den vielen hinduistischen Strömungen verwoben sind. Wenn also jemand während des Sonnegrußes sagt: Yoga ist eine 4000 Jahre alte Tradition, stimmt das nicht so wirklich.
Richtig wäre: Modernes Yoga ist ein 100 Jahre altes System, das sich aus unterschiedlichen, sehr alten, indischen Quellen speist und in letzter Konsequenz zur heutigen, körperbezogenen Praxis geführt hat. ……Utkatasana…..ausatmen.
Braucht Yoga also ein Update?
Bevor wir über Erneuerung im Yoga nachdenken, muss ersteinmal ganz deutlich gesagt werden: Wir brauchen in der westlichen Yogawelt zunächst einmal eine Rückbesinnung auf das, was Yoga eigentlich ist. Also weg von der Fitness-Industrie und hin zu den Aussagen der yogischen Schriften:
– Du bist nicht allein auf dieser Welt, sondern mit allem verbunden.
– Besitzen und Habenwollen macht Dich nicht glücklich.
Von diesen Annahmen aus gehend würde ich sagen: Ja, modernes körperbezogenes Yoga BRAUCHT ein Update und es KANN sich noch einmal neu erfinden. Und das nicht nur im Bezug auf die eigentliche philosophische Lehre. Auch wissenschaftliche Ergebnisse zu Körper und Bewegung können meiner Meinung nach in eine Yogapraxis mit einfließen.
In vielen Schulen werden Ausrichtungsprinzipien stur unterrichtet, obwohl schon lange bekannt ist, dass alle Körper ganz verschieden sind. Eine Asana fühlt sich für drei verschiedene Personen ganz unterschiedlich an. Eine spürt es im Knie, der nächste in der Hüfte und die dritte Person merkt überhaupt nichts.
Von dem her ist es völlig legitim, „klassische“ Konzepte von Asana zu hinterfragen.
Denn egal wie wir uns bewegen: Yoga ist es nur, wenn das Drumherum und Innendrin stimmt. Das kann sowohl tantrisch-lebensbejahend-pulsierend, als auch yogasutrisch-statisch-still sein.
Der Körper ist nicht getrennt sondern selbst das „große Ganze“. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Körper-Herz-Geist in einer Yogastunde zeitgleich ein Erleben der puren Lebensenergie. Das kann einerseits über das bewusste Erleben der Sinne, andererseits über die Konzentration auf die „Unendlichkeit“ geschehen.
Wie war das?
Wer den Himmel nicht in sich selber trägt, der sucht ihn vergebens im ganzen All.“ – Otto Ludwig
Hier unterscheidet sich die yogische Praxis auch von anderen spirituellen Systemen, die den Körper als unwichtig oder sogar schlecht begreifen. Das macht Yoga so zugänglich für viele. Denn es eröffnet einen spirituellen Weg ins Sein, ohne die Implikationen eine konkreten Religionszugehörigkeit.
Bleibt nur noch die Frage….
Welche Bedingungen sollte eine Yogaklasse dann erfüllen?
Yoga ist immer dann eine spirituelle Praxis, wenn es darum geht, präsent zu sein und den Moment zu erspüren. Der Weg führt dabei immer vom Lärm in die Stille und von der Bewegung in die Ruhe. Genau da kann mensch Spiritualität fernab jeglicher Dogmen erfahren. Sei es Lebensenergie, innerer Friede, Freiheit, Verbundenheit oder Liebe. Das alles sind Aspekte, die erfahrbar sind in einer Yogastunde.
Gleichzeitig ist der zentrale Bestandteil einer Yogastunde, der Umgang mit dem eigenen Körper.
Und hier können und sollen auch NEUE Ideen und Konzepte eine Rolle spielen. Forscher und Praktizierende aller möglichen Bewegungsformen (z.B. Feldenkrais, Body-Mind Centering…etc.) entdecken laufend Faszinierendes über den menschlichen Körper-Geist-Zusammenhang. Diese Erkenntnisse in die Yogapraxis zu integrieren ist sinnvoll und macht einfach Spaß.
Aufgabe eines Yogalehrers ist es, bei den Yogischülern Faszination fürs eigene Sein zu wecken. Das fängt immer beim Körperlichen an und ist in erster Linie als Impuls zu verstehen. Die eigentliche Entdeckungsreise ist für jede*n individuell und kann nicht von außen vorgegeben werden. Womit der Bogen für mich rund wird hin zu einer neuartig-lebendigen Asana-Praxis.
Yoga ist tot, es lebe Yoga!
Auch wenn es immer noch (zu) viele Yogis als Status Quo hinnehmen oder sogar postulieren: Modernes Yoga ist keine steinalte Praxis, sondern „nur“ ein abgewandelter Teilaspekt einer äußerst vielfältigen spirituellen Lehre. Der Sonnengruß ist zwar gut für den Kreislauf – aber ob er direkt zur Erleuchtung führt, bleibt abzuwarten (Zwinkersmiley).
Wenn Yoga als Weg verstanden wird, der in die meditative Stille führt, Lebensfreude steigert und den Menschen dabei hilft, sich als mit allem verbunden (und nicht getrennt!!) zu sehen, kann die dazu gehörige Bewegung ganz vielfältig aussehen. Und eben auch anders, als dass, was wir bisher unter Yoga verstanden haben. Wenn die ganze Akrobatik wegfällt, nähern wir uns auch dem an, was Yoga eigentlich ist: eine wundervolle Art und Weise, das menschliche Bewusstsein zu verstehen, zufriedener zu sein, mit dem was ist und diese Welt so zu behandeln, als wären wir für sie verantwortlich. Da waren und sind uns die alten Inder und andere asiatische Traditionen weit voraus im Denken!
Im großen und ganzen glaube ich, dass Yoga durchaus wachsen und sich neu erfinden kann. Das bedeutet sowohl, dass die Wurzeln nicht vergessen werden, aber auch die Möglichkeit besteht, dass organisch Neues entsteht, dass Ost,West,Nord und Süd vereint.
Was denkst Du?
Hari Om Tat Sat.
QUELLEN:
Praktisch erfahrbar: Sensing Yoga Berlin
Christopher Wallis: Tantra Illuminated – The Philosophy, History, and Practice of a Timeless Tradition, (2013, Taschenbuch)
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-104674098.html
https://mereorthodoxy.com/call-danish-gymnastics-yoga-body/
https://www.newyorker.com/business/currency/iyengar-invention-yoga
https://www.yoga-welten.de/hatha-yoga/gheranda-samhita/kapitel-2-asana.htm
https://en.wikipedia.org/wiki/Gheranda_Samhita
https://www.yogajournal.com/yoga-101/yoga-s-greater-truth
https://bashny.net/t/en/360181
https://de.wikipedia.org/wiki/Hathapradipika
https://de.wikipedia.org/wiki/Samadhi
This is water- David Foster Wallace
https://www.youtube.com/watch?v=8CrOL-ydFMI
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