Schicke Leggins, wallendes Haar im Wind, dazu eine artistische Yogapose. Ist es eine Auto-Werbung oder ein Yogafoto? Heutzutage scheinen diese Grenzen immer öfter zu verschwimmen. Denn das lächelnde Glücksversprechen der Werbeindustrie hat längst in der Yogawelt Einzug gehalten. Dabei ist Yoga viel mehr, als reines Turnen auf der Matte. Es geht um Mitgefühl, um eine Einheitserfahrung, um Stille. Ich würde behaupten, es geht um ein Liebesgezwitscher mit der Welt.
Mitte 2020 hat das aber jemand ganz anders gesehen: die orthodoxe Kirche in Griechenland und Zypern hat ihren Gläubigen empfohlen, kein Yoga mehr zu praktizieren. Ich übersetze frei:
Yogis seien selbstverliebte Egoisten.
Der Bund deutscher Yogalehrer antwortete promt, dass die meisten Yogis eh kein spirituelles Interesse hätten. Als buddhistische Yogi-Christin* sind beide Aussagen für mich natürlich hoch brisant UND interessant.
Deshalb habe ich beschlossen, das Ganze mal genauer unter die Lupe zu nehmen: Was meint die Orthodoxe Kirche eigentlich mit ihrer Aussage, wie viel Wahrheit findet sich in dieser und sind wir Yogis tatsächlich so „unspirituell“, wie es der BDY behauptet?
Yoga als Nabelschau, bei der wichtige Werte auf der Strecke bleiben?
Im Sommer 2020 gab es einen kleinen Skandal in der Welt der Yogalehrenden: die orthodoxe Kirche in Griechenland und Zypern hat ihren Christen empfohlen kein Yoga zu praktizieren, weil es nicht mit den christlichen Werten übereinstimme.
Bevor wir gegen die Kirche als Institution wettern, lass uns mal überlegen, was genau mit der Aussage gemeint ist. Und dann im zweiten Schritt prüfen, ob vielleicht sogar ein Fünkchen Wahrheit darin steckt.
Der Kernpunkt der Kritik liegt bei der konkreten spirituellen Praxis. Das Gebet im Christentum sei ein Dialog mit dem Göttlichen, also mit der Welt. Beim Yoga, so der Vorwurf, ginge es vor allem um den Dialog mit sich selbst. Beides sei vom Grund her verschieden und deshalb nicht miteinander vereinbar.
Yoga wird also als Nabelschau gesehen, bei der christliche Werte wie Nächstenliebe und das Wirken in der Welt auf der Strecke bleiben.
Wie viel Wahrheit steckt in dieser Aussage? Ganz ehrlich – so abwegig finde ich diese Behauptung nicht! Vielleicht hat die orthodoxe Kirche mal den Hashtag #yoga eingegeben auf Instagram oder Facebook?
Vielleicht sind ihr auch zu Ohren gekommen, wie viele yoga-affine Menschen mittlerweile gegen die Corona-Maßnahmen sind und etwas von Impfzwang murmeln. Versklavung durch Masken, schreien sie und meinen damit, dass sie eins ihrer vielen Privilegien kurz abgeben müssen – beim Einkaufen und im Supermarkt. Erst vorletztes Wochenende habe ich schockiert beobachtet, wie tausende Yogis und One-Love-Apostel durch Berlin gelaufen sind – während einer weltweiten Pandemie, ohne Maske!
Uff!
Aber so schnell will ich nicht aufgeben! Meinem zweiten Impuls folgend, sehe ich mir mal an, was auf Google so gesucht wird. Das ist ja heutzutage kein schlechter Indikator, für das, was auf der Welt so passiert. **
Yoga und Mitgefühl vs. Christen und Mitgefühl
Zunächst einmal: weder Yogis noch Christen scheinen besonders oft nach Mitgefühl zu googlen, zumindest nicht im Zusammenhang mit der ausgeübten (spirituellen) Praxis. Was aber auffällt sind die Suchanfragen, die mit beiden Begriffskombinationen zusammenhängen. Während bei den Yogis Meditation und Selbstliebe ganz eng mit Mitgefühl in Verbindung zu stehen scheint, steht bei den Christen eher das Thema Barmherzigkeit im Mittelpunkt.
Ein erster oberflächlicher Blick scheint die Vorwürfe der Synode also zu bestätigen: Wir Yogis drehen uns in erster Linie um uns selbst, während es im Christentum darum geht, dienst am Nächsten zu leisten. Barmherzigkeit ist laut Wikipedia eine „existenzielle Betroffenheit im Innersten und ein Tun, das mehr ist als bloßes Gefühl des Mitleidens.“. Kurzum, es geht im Christentum eher ums Handeln in der Welt und nicht nur darum, sich selbst zu heilen.
Ein kurzer Check im Bücher-Angebot spricht ebenfalls nicht unbedingt für uns Yogis. Das erste Buch handelt davon, wie wir uns SELBST mehr Mitgefühl entgegenbringen.
Doch ist das wirklich so schlecht? Heißt es nicht in der Bibel: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst?
Liebe erst Dich, dann Deinen Nächsten
Kennst Du einen Menschen mit Helfer-Syndrom? Eine Person, die allen helfen will und dabei die eigenen Bedürfnisse ignoriert bis zum Zusammenbruch? Und was raten wir diesen Personen regelmäßig? Kümmer Dich erstmal um Dich selbst, dann um die anderen!
Auch in Yogakreisen sind Selbstfürsorge und Selbstliebe ein großes Thema. Vielleicht eben DAS große Thema. Als ich vor einigen Jahren in einer persönlichen Krise gefangen war, haben mir die stillen Begegnungen am Ende jeder Yogaklasse sehr dabei geholfen, mich selbst anzunehmen und zu lieben.
Von dem her, finde ich es vollkommen ok, dass Yoga zunächst einmal den Fokus auf das Selbst legt. Wir sind erst dann fähig anderen etwas zu geben, wenn wir nicht aus dem Leeren schöpfen. Im Katastrophenfall gilt ja auch: „Helfen Sie erst sich selbst, bevor sie anderen helfen! „
Wäre alles anders gekommen, wenn Jesus gesagt hätte: Liebe Dich genauso, wie Deinen Nächsten“
So weit so gut! Selbstliebe und Nabelschau sind also per se erstmal nicht das Übel der Welt. Allerdings beschleicht mich beizeiten das Gefühl, dass wir Yogis schwer wieder heraus finden aus der Selbstoptimierung? Schließlich gibt es endlos viel zu reparieren, wenn man schonmal dabei ist.
Noch besser essen, noch tiefer dehnen, noch mehr strahlen.
Und genau das ist bei den Christen eben genau andersherum. Die scheinen den Nr. 1 Leitspruch von Jesus anders zu interpretieren: lieb erst jemand anderen, dann liebst Du auch Dich selbst. Im Christentum geht es nicht so sehr ums Innere – was zählt ist das Handeln am Nächsten und das Wirken in der Welt.
Was schön klingt, ist aber nicht immer schön in der Praxis. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Körper so eine unbedeutende Nebenrolle im Leben der meisten Christen spielt. Eine kurze Google-Suche ergibt wieder interessante Ergebnisse.
So lese ich bald von einer Christina, die ein Burn-Out hatte, weil sie eben vor lauter Dienst am Nächsten „die kleinen Hinweise ihres Körpers ignoriert und damit ihre Grenzen ständig überschritten“ hat.
Und bei den Yogis? Da scheint es gar nicht so anders zu sein. Auch hier gibt es Artikel zum Burn Out Sysndrom. Es scheint also auch Yogis zu geben, die Nächstenliebe praktizieren und die Selbstliebe vernachlässigen.
Ich bin verwirrt! Plötzlich verschwimmen die Grenzen zwischen Yogis und Christen. Sind wir am Ende alle gleich?
Total schade eigentlich, dass sich Christen und Yogis nicht öfter zusammensetzen. Es gäbe sicher viel zu erzählen und voneinander zu lernen!
Ob der BDY auch dasselbe gedacht hat? Oder setzen wir Yogis uns grundsätzlich nicht mit Spiritualität auseinander, weil sie unwissenschaftlich und damit „out of date“ ist? So ähnlich zumindest habe ich das Statement des BDY aufgefasst.
Ist Yoga keine spirituelle Praxis?
Es „sei eine Minderheit, die Yoga aus spirituellem Interesse praktiziere“. So die Reaktion des BDY auf die Meldungen der orthodoxen Kirche. Ich war darüber so erstaunt, dass ich prompt eine Umfrage in der Yoga Deutschland Gruppe (auf Facebook) veröffentlicht habe mit der Frage, ob Yoga für sie spirituell sei oder nicht. Keine representative Umfrage, aber im Großen und Ganzen waren die Antworten einhellig: Yoga ist sehr wohl eine spirituelle Praxis, auch wenn viele Schüler*innen nicht DESWEGEN zum Yoga kommen, sondern weil sie sich bewegen und Stress abbauen wollen.
Meint das der BDY auch so? Sind wir Yogalehrenden also die Minderheit und unsere Schüler die „unspirituelle“ Mehrheit?
Schon allein der Begriff Spiritualität scheint bei vielen eine grundsätzliche Abwehrhaltung zu erzeugen. Entweder wird das Wort mit Institutionen wir der Kirche gleichgesetzt, oder als New Age Selbstheilungstrip abgetan. Das wird aber den vielen Yogalehrer*innen nicht gerecht, die sich jahrelang auf verschiedenen Ebenen mit Spiritualität auseinandergesetzt haben. Nicht nur auf grauem Papier, sondern eben durch körperliche Praxis und durch Meditation. Yoga ist mehr als Sport und Muskelentspannung. Yoga ist spirituell! Und diese Spiritualität ist wunderschön, denn sie vermittelt sowohl Selbstliebe, als auch Liebe zur Welt.
Wir Yogalehrerinnen leben vor, was uns die orthodoxe Kirche abspricht: positiv in der Welt zu wirken, Beziehungen respektvoll und liebevoll zu gestalten. Zuzuhören. Anzunehmen.
Zumindest einige von uns.
Damit lässt sich die obige Frage eindeutig beantworten: Dürfen Christen Yoga machen? Yes of course, they maybe should!
Liebe Grüße
Silke
PS: lass mir einen Kommentar da, ganz unten auf der Seite! <3
Anmerkungen:
* die hoffentlich bald mal eine Begegnung mit dem Islam hat!
** Einmal mit der Kombination Yoga + Mitgefühl, dann in der Kombi Christen + Mitgefühl. Ich wollte also einmal wissen, ob Menschen überhaupt nach den Begriffen suchen und dann wissen, was im Zusammenhang steht mit den Suchergebnissen.
Fotos:
Aarón Blanco Tejedor on Unsplash
Quellen: